Bundesverfassungsgericht zwingt Berlin zu Beamten-Gehaltsanpassung bis 2027
- von Klaus Hintermann
- Nov, 20 2025
Das Bundesverfassungsgericht hat am 17. September 2025 entschieden: Die Besoldung von Beamten in Berlin zwischen 2008 und 2020 war verfassungswidrig. Die Entscheidung, veröffentlicht am 19. November 2025, trifft besonders die unteren Besoldungsgruppen der Besoldungsordnung A – also Polizisten, Feuerwehrleute und Justizmitarbeiter. Bei 58 Prozent der untersuchten Jahresnettobeträge lag die Bezahlung unter der verfassungsgemäßen Mindestgrenze. Kein Zufall. Kein bürokratischer Fehler. Sondern ein systematischer Verstoß – und jetzt muss Berlin nachbessern. Bis zum 31. März 2027. Oder es droht ein weiterer Rechtsbruch.
Was genau ist verfassungswidrig gewesen?
Das Gericht hat klargemacht: Die Besoldung von Beamten darf nicht länger an der Grundsicherung orientiert werden. Früher galt: Sie muss 15 Prozent über dem Sozialhilfeniveau liegen. Das reicht nicht mehr. Ab jetzt muss sie mindestens 80 Prozent des medianen Haushaltseinkommens aller Deutschen erreichen – also das Einkommen, das genau die Hälfte der Haushalte über- und die andere Hälfte unterschreitet. Und das wird gewichtet: nach Anzahl der Personen im Haushalt und deren Alter. Ein Beamter mit Familie muss also anders bezahlt werden als ein Single. Das ist kein Luxus. Das ist Verfassungsrecht.
Die Zahlen sind drastisch: Wer in den Jahren 2008 bis 2020 als Polizistin in Berlin mit 2.500 Euro netto auskam, lag unter der neuen Grenze – oft deutlich darunter. Die unteren Besoldungsgruppen, die besonders viele Frauen und junge Menschen betreffen, wurden am stärksten benachteiligt. Kein Wunder, dass sie vor Gericht zogen. Sieben Klagen, alle aus Berlin. Und alle erfolgreich.
Die vier Parameter, die jetzt zählen
Das Gericht hat vier messbare Größen festgelegt, an denen sich künftig jede Gehaltsanpassung messen lassen muss. Wer sie ignoriert, riskiert erneut eine Verfassungswidrigkeit:
- Tariflohnindex (Entwicklung der Gehälter in der Wirtschaft)
- Nominallohnindex (allgemeine Lohnentwicklung)
- Verbraucherpreisindex (Inflation)
- Abstandsgebot (Abstand zur Grundsicherung)
Wenn die Besoldungserhöhung um mehr als fünf Prozent von einem dieser Werte abweicht, gilt das als Indiz für Verfassungswidrigkeit. Weicht sie von zwei Parametern ab? Dann ist es kein Indiz mehr – es ist ein klares Urteil: Die Bezahlung ist zu niedrig. Und das ist kein Vorschlag. Das ist Recht.
Ein konkretes Beispiel: Ein Beamter in der Besoldungsgruppe A9, der aktuell 3.000 Euro netto verdient, müsste ab 2027 mindestens 4,275 Prozent mehr bekommen – also rund 128 Euro mehr im Monat. Nur so bleibt die Stadt im Recht.
Rückwirkung? Nur für die, die geklagt haben
Wer nicht geklagt hat, bekommt kein Geld zurück. Kein Nachzahlungssturm. Kein Bonus für alle. Nur diejenigen, die zwischen 2008 und 2020 Widerspruch eingelegt oder Klage erhoben haben – und deren Verfahren noch nicht abgeschlossen waren – erhalten eine Nachzahlung. Die anderen? Sie bekommen nur mehr Geld ab 2027. Kein Vergleich mit der Rentenanpassung. Kein automatischer Ausgleich. Ein rechtsstaatlicher Kompromiss – und zugleich eine Warnung: Wer schweigt, verliert.
Die bundesweite Wirkung: Berlin ist nur der Anfang
Die Entscheidung ist nicht nur ein Berliner Problem. Sie ist ein Signal für ganz Deutschland. Der dbb Bundesverband hat sofort reagiert. Volker Geyer, der Vorsitzende, sagte: "Erneut mussten Beamtinnen und Beamte bis vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ziehen, um Recht zu bekommen." Ein bitterer Satz. Und er trifft genau den Punkt: Die Politik hat jahrelang geschlafen. Und jetzt zahlt sie den Preis – mit Geld, mit Zeit, mit Glaubwürdigkeit.
In Niedersachsen läuft bereits ein ähnlicher Kampf. Zimbehl, Vorsitzender des dbb Niedersachsen, kritisiert die Landesregierung: "Flickschusterei" nennt er die geringe Sonderzahlung, die das Finanzministerium vorschlägt. Und er hat recht. Ein paar Euro extra im Jahr – das ist kein Ausgleich. Das ist Taktik. Das ist Verfassungsbruch in kleinerem Format.
Auch in Thüringen und Schleswig-Holstein laufen Verfahren. Die Bundesländer, die bislang gedacht haben, sie könnten die Beamtenbesoldung als Haushaltssparmechanismus nutzen, stehen jetzt vor einem Problem: Entweder sie zahlen – oder sie verlieren vor Gericht. Und das wird teurer.
Warum das für jeden Bürger wichtig ist
Denn wer denkt, das betrifft nur Beamte – der irrt. Wer die Polizei nicht bezahlt, riskiert mehr Personalengpässe. Wer die Justiz unterfinanziert, sorgt für Verfahrensverzögerungen. Wer die Feuerwehr mit zu niedrigen Löhnen belässt, gefährdet die Einsatzbereitschaft. Das ist kein internes Personalproblem. Das ist ein Problem der öffentlichen Sicherheit. Und der Demokratie.
Das Gericht hat klargemacht: Die Besoldung ist kein Selbstbedienungsladen für Politiker mit Haushaltsproblemen. Sie ist ein Grundrecht. Ein Teil der sozialen Marktwirtschaft. Und wenn der Staat das nicht einhält, dann verliert er sein Vertrauen – und seine Legitimität.
Was kommt als Nächstes?
Berlin hat bis März 2027 Zeit. Ein Jahr und vier Monate. Keine Ewigkeit. Die Finanzverwaltung muss jetzt rechnen: Wie viel Geld braucht man? Wer bekommt wie viel? Und wie wird das in den Haushalt integriert? Die Landesregierung hat zwei Optionen: Entweder sie kürzt woanders – oder sie nimmt mehr Geld aus dem Bundeshaushalt. Beides ist politisch heikel.
Und dann gibt es noch die Versorgungsempfänger – also Rentner aus dem Beamtenstand. Die sind nicht direkt betroffen – aber ihre Bezüge werden oft an die aktuelle Besoldung gekoppelt. Wer jetzt nachbessert, muss später auch dort nachzahlen. Ein Dominoeffekt. Ein weiterer Kostenfaktor.
Ein weiteres Signal: Die Gewerkschaften werden jetzt Druck machen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat die Entscheidung als "absehbar" bezeichnet. Das heißt: Sie haben es kommen sehen. Und sie werden jetzt in allen Bundesländern nachlegen. Die nächste Runde der Tarifverhandlungen – für alle öffentlichen Dienstleister – wird härter. Und teurer.
Frequently Asked Questions
Wer erhält eine Rückzahlung für die verfassungswidrigen Gehälter?
Nur Beamte, die zwischen 2008 und 2020 gegen ihre Besoldung geklagt oder Widerspruch eingelegt haben und deren Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren, bekommen Nachzahlungen. Alle anderen erhalten keine Rückvergütung – nur eine Anpassung ab 2027. Das ist eine bewusste Abwägung des Gerichts: Recht muss erkämpft werden – nicht einfach so gezahlt werden.
Wie wird die neue Mindestbesoldung genau berechnet?
Die Mindestbesoldung muss künftig mindestens 80 Prozent des medianen Haushaltseinkommens aller Deutschen erreichen – gewichtet nach Haushaltsgröße und Alter der Mitglieder. Das bedeutet: Ein Beamter mit zwei Kindern muss mehr verdienen als ein Single. Die Berechnung basiert auf den offiziellen Statistiken des Statistischen Bundesamts und wird jährlich aktualisiert.
Was passiert, wenn Berlin die Frist verpasst?
Wenn Berlin bis März 2027 keine verfassungskonforme Regelung vorlegt, könnte das Bundesverfassungsgericht eine Zwangsvollstreckung anordnen – etwa durch eine Geldstrafe oder die Einsetzung eines Beauftragten. Praktisch wäre das ein politischer Skandal. Die Finanzverwaltung müsste dann von der Bundesregierung oder dem Bundestag zur Rechenschaft gezogen werden.
Betrifft das Urteil auch andere Bundesländer?
Ja. Das Urteil ist bindend für alle Bundesländer. Obwohl es nur Berlin betrifft, hat es Präzedenzwirkung. Niedersachsen, Thüringen und Schleswig-Holstein laufen bereits mit ähnlichen Klagen. Die Entscheidung gibt den Klägern dort eine starke Rechtsgrundlage – und macht jede weitere Verzögerung zur rechtlichen Herausforderung.
Warum sind die unteren Besoldungsgruppen besonders betroffen?
Weil ihre Gehälter in den vergangenen Jahren kaum mit der Inflation oder den Löhnen in der Wirtschaft Schritt gehalten haben. Während die Tariflohnentwicklung bei 15–20 Prozent lag, stiegen die Besoldungen oft nur um 5–8 Prozent. Die unteren Gruppen – oft Frauen, junge Beamte, Teilzeitkräfte – wurden systematisch benachteiligt. Das Urteil korrigiert diese Ungerechtigkeit.
Wie wirkt sich das auf die Versorgung von Pensionären aus?
Die Versorgungsbezüge werden oft an die aktuelle Besoldung gekoppelt. Wenn die Grundgehälter ab 2027 steigen, müssen auch die Renten angepasst werden – rückwirkend bis zum Beginn der Anpassung. Das bedeutet: Die Landeskassen müssen zusätzliche Mittel bereitstellen, was den Haushalt weiter belastet – aber rechtlich unumgänglich ist.